Anmerkung: Dieser Text entstand bereits vor der Pandemie.
Gerade bin ich im Urlaub, sitze auf einer Grünfläche am Hafen von Torquay und lasse das bunte Treiben um mich herum einfach geschehen. Kinder planschen in einem Wasserbecken, Familien verzehren das vom Take Away geholte Essen und ältere Ehepaare haben sich für eine Pause auf Parkbänken niedergelassen. Mir kommt der Gedanke, dass all diese verschiedenen Menschen irgendwo herkommen, hingehören und zu Hause sind. Ich denke an mein zu Hause und daran, wie gerne ich dort bin, wie gut es mit dort geht und egal wie oft mich das Fernweh packt oder wie sehr ich es auch liebe neue Orte kennenzulernen, der Weg nach Hause fällt mir nie schwer. Ich kann mich darauf freuen, wieder die gewohnten Wege entlangzugehen, die altbekannten Gesichter zu sehen und auch die heimischen Geräusche und Düfte wahrzunehmen.
All dies wird mir immer wieder deutlich bewusst, wenn ich mein zu Hause für eine gewisse Zeit verlasse und ich mich trotzdem mit der Tatsache wohlfühlen kann, dass die Dauer meiner Abwesenheit begrenzt ist und ich bald wieder zurückkehren werde. Ich fliehe nicht, vielleicht flüchte ich, aber auch nur kurz um mal dem Alltagstrott zu entkommen oder Verpflichtungen ruhen zu lassen, doch das lediglich für einen Wimpernschlag, um mit neuen Eindrücken im Gepäck daheim wieder mit voller Kraft loslegen zu können. Kraft schöpfen, das kann ich zwar auch genauso gut zu Hause, dafür brauche ich nicht viel außer ein bisschen Zeit für mich, die ich so gestalten kann, wie ich es möchte, oder die ich auch einfach nur auf meine Art vertrödeln kann, wenn mir danach ist. Die wertvollen neuen Eindrücke hingegen, die an den unterschiedlichsten Schauplätzen auf mich einströmen, sind enorm wichtig für mich und ich schätze sie sehr. Manchmal habe ich das Gefühl, als könnte ich erst zu Hause alles richtig verarbeiten und in Ruhe über das Erlebte nachdenken, anderen davon erzählen und anschließend lange von diesen Erinnerungen zehren. Vielleicht sind es gerade die kleinsten Momente, die etwas in mir bewegen und die nachhaltig ihre Spuren hinterlassen oder gar etwas in mir verändern. Dabei müssen es nicht immer die goldenen Momente sein, auf die ich mich nur zu gerne zurückbesinne und die ich mit einem von Wehmut durchsetzten Seufzer zweifelhaft versuche, wieder neu aufleben zu lassen, sondern es können genauso gut die schwierigen, anstrengenden oder unschönen Erlebnisse sein, die einen unendlich bereichern.
Ich erinnere mich an einen Schüleraustausch nach England, als ich in der siebten Klasse war, bei dem ich ehrlich gesagt kein sonderliches Glück hatte, was meine Gastfamilie und die damit verbundene Unterbringung anging. Jeden Tag, wenn sich unsere Schulklasse zusammenfand und aufgeregt die neuesten Ereignisse austauschte, hatte ich ausgefallene Stories auf Lager, die bei den anderen zur Unterhaltung beitrugen oder sie einfach nur ungläubig staunen ließen. Auch ich konnte teilweise über die skurrilen oder seltsamen Geschehnisse lachen, die mir widerfahren waren, doch oftmals war ich schlicht und ergreifend niedergeschlagen oder traurig darüber, wie diese fremden Menschen mit mir umgingen und ich sehnte mich nach einer anderen Unterkunft. Einer meiner damaligen Mitschüler äußerte einen so simplen und plausiblen Satz, der nicht besser hätte beschreiben können, wie ich das Beste aus dieser Ausnahmesituation machen konnte.
„Sei froh darüber, dass es nur hier so blöd ist und nicht bei dir zu Hause!“
Bis heute rufe ich mir diesen Satz ins Gedächtnis, immer dann, wenn ich irgendwo bin, wo es mir nicht so gut geht oder wo ich mich nicht sonderlich wohl fühle. Wenn ich das tue, bin ich nicht mehr allzu deprimiert oder verzweifelt, ich kann diese Gefühle stückweise beiseite schieben, wenn ein fremder Ort nicht meinen Vorstellungen oder Wünschen entspricht.
Ich komme dann irgendwie damit zurecht, dass die Airbnb Wohnung in London nicht ganz realitätsgetreue Fotos auf ihrer Internetseite hochgeladen hatte, sie ehrlich gesagt ein ziemlich schrottes Drecksloch ist und die Bewohnerinnen nebenan genau dann anfangen zu kochen und stundenlang ihre Serie auf Lautstärke 311 zu sehen, wenn ich einfach nur noch schlafen möchte, um zu versuchen, mit dieser Metropole klarzukommen. Ich verfalle nicht in in Panik, da im gesamten Hotel in Antwerpen undefinierbare Flecken an Wänden und Fußböden sind, die Knopfleiste des Fahrstuhls mit Tesafilm geflickt ist und Knöpfe wahllos ausgetauscht wurden, das Zimmer voller Krümel ist und es unangenehm riecht und sich die Zustände durch das abendliche Lesen von Hotelrezensionen nicht verbessern, sondern ganz im Gegenteil ein ruhiger Schlaf weiter auf sich warten lässt, wenn man nicht umhin kommt, sich in das Bett und dann auch noch unter die Decke zu legen.
Stattdessen bin ich froh darüber, ein zu Hause zu haben, das ich stets vermissen kann, wenn ich woanders bin und bei dem mich jedes Mal ein Gefühl des Ankommens übermannt, wenn die Worte „Moin“ und „Jo“ ausreichen, um ein Gespräch zu führen und alles was darüber hinausgeht Gesabbel ist, wenn ich im Radio einen Beitrag über Ostsee-Ole, die Ditsch-WM oder die Wattolümpiade höre, wenn ich über die Landstraßen fahren kann, ohne mit den Ohren knacken zu müssen, weil wir hier einfach keine Berge haben, wenn es totaler Schwachsinn ist, bei Regenwetter einen Schirm mit nach draußen zu nehmen, da der Niederschlag durch den starken Wind eher waagerecht fliegt, wenn beispielsweise die Worte Käse, Weg und Milch wie Keese, Weech und Meech ausgesprochen werden und der Kartoffelsalat mit Mayo gemacht wird und wenn sich neben mir der Deich erstreckt, auf dem die Schafe grasen und mit ihren wollenen Poschis in Richtung der kräftigen Windböen stehen.
In den letzten Tagen ist mir zunehmend bewusst geworden, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, solche Dinge zu verspüren. Aus diesem Grund bin ich umso dankbarer, einen solchen Ort oder auch viel mehr ein solches Empfinden für mich gefunden zu haben. Denn ein zu Hause muss nicht zwingend etwas mit Heimat oder Ursprung zu tun haben, dieses vorerst leere Wort kann mit allem Möglichen gefüllt werden, das es zu dem macht, was es letztendlich ist. Menschen, die uns umgeben, eine Atmosphäre, die ausgestrahlt wird, unberührte Natur oder das aufregende Pulsieren einer Großstadt … all dies sind Faktoren, die ein zu Hause schaffen können, zu dem man gerne zurückkehrt und nach dem man sich nach einer geraumen Abwesenheit durchaus sehnen kann.
Ich hoffe, dass irgendwann jeder sein persönliches zu Hause gefunden hat und dass er es vermissen kann, so, wie ich meines gerade vermisse, während ich auf einer Grünfläche in Torquay sitze.
Gigi
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